8. Mai Tag der Befreiung


Am 8. Mai fand auf Einladung  der GAL-Saulheim und der VG-Grünen im Dietrich Bonhoeffer Haus ein Vortrag mit anschließendem Gespräch zum Jahrestags des Endes des zweiten Weltkriegs statt.

Volker Galle referierte über Begrifflichkeiten und Vereinahmung des Gedenkens durch völkische Strömungen.
Manuskript von Volker Galle:

Der 8. Mai 1945 und seine Deutungen

Nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Streitkräfte am 7. Mai im Hauptquartier der alliierten Streitkräfte in Reims wurde als Zeitpunkt für die Einstellung aller Kampfhandlungen der folgende Tag, 8. Mai um 23:01 festgelegt.

Kurz nach Mitternacht des 8. Mai wurde die Kapitulation auch im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst unterzeichnet.

Daher wurde in der Sowjetunion und wird in Russland heute der 9.5. als Tag des Sieges begangen.

In den USA, Großbritannien, Kanada und Australien heißt dieser Jahrestag VE-Day, Victory in Europe Day.

Während der 8. Mai in der DDR von 1950-1967 und im Jahr 1985 ein gesetzlicher Feiertag war, fand er in der Bundesrepublik wenig Interesse, war er doch kein Tag des Sieges, da Deutschland sich nicht selbst von der NS-Diktatur befreit hatte, sondern durch militärischen Zwang von außen befreit werden musste. Man sprach von Kapitulation, Niederlage, Kriegsende oder Stunde Null.

Im Vorfeld der Regierungserklärung von  Bundeskanzler Willy Brandt am 8. Mai 1970 zum 25. Jahrestag hatte die CDU/CSU-Opposition versucht, das zu verhindern mit den Begründungen „Niederlagen feiert man nicht“ und „Schande und Schuld verdienen keine Würdigung“. (Wikipedia 8. Mai)

Am 40. Jahrestag im Jahr 1985 fand im Bundestag eine Gedenkstunde statt, bei der Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Rede  vom 8. Mai als „Tag der Befreiung…von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ sprach. Im Titel der Rede wurde auch auf „die Beendigung des Krieges in Europa“ hingewiesen. In diesem Sinn wird der 8. Mai mittlerweile in Deutschland als „Tag der Befreiung“ verstanden, auch wenn er für einzelne Personen und Gruppen auch andere Bedeutungen hat, so unter der Metapher vom Neubeginn als Beginn der stalinistischen Diktatur im Osten Deutschlands, als Beginn der Aufarbeitung von Kriegsverbrechen und Völkermord, als Beginn des Herausredens an der Beteiligung des deutschen Volkes, als Beginn von Vergeltung und Vertreibung uvm., unter der Metapher der Fortsetzung als Anknüpfung an die demokratischen Traditionen von 1848 und 1919 oder die völkischen Traditionen von 1870/71 oder 1933-45, bzw. deutschnationale Größe und autoritäre Führerstrukturen.

Hier gilt es vor allem die zahlreichen persönlichen Erfahrungen von Einzelnen und Gruppen anzuhören und einzuordnen, weil man dadurch nicht nur ins Gespräch kommen, sondern auch zu bearbeitende Themen finden kann, die in den demokratischen Diskurs integriert und der völkischen Inbesitznahme entzogen werden können.

Daher ebbt die Debatte um die Deutung des 8. Mai als „Tag der Befreiung“ auch nicht ab. Und es gibt selbst im Lager der AFD dazu unterschiedliche Positionen.

Während der in der Oberlausitz zu DDR-Zeiten aufgewachsene Tino Chrupalla an einer Feier der russischen Botschaft in Berlin zum Sieg über Hitler-Deutschland am 9. Mai teilnahm, hatte die in Ostwestfalen  offenbar in einer Vertriebenenfamilie aufgewachsene Alice Weidel davon Abstand genommen mit der Begründung: „Also, hier die Niederlage des eigenen Landes zu befeiern mit einer ehemaligen Besatzungsmacht, das ist etwas, wo ich für mich persönlich entschieden habe, auch mit der Fluchtgeschichte meines Vaters, daran nicht teilzunehmen.“

An dieser Stelle werden u.a. Unterschiede in der Ost- und Westerfahrung deutlich, die nicht nur in der AFD zirkulieren.

Es scheint mir wichtig, die Lebensgeschichte der Handelnden anzusehen und anzuhören, um hinter den politischen Positionen narrative Deutungszusammenhänge zu erkennen, die helfen können, demokratische Teilhabe zu ermöglichen.

So wäre beispielsweise das Risslandbild in seinen widersprüchlichen Schattierungen und politischen Vereinseitigungen aufzublättern, aber auch die Erfahrungen der Vertreibung im Osten, einmal im Gesamtzusammenhang von Vertreibungspolitiken unterschiedlicher Staaten zu verschiedenen Zeiten, zum anderen in den zu beobachtenden, keineswegs einheitlichen  Schlussfolgerungen von Betroffenen. So zeigt sich z.B. in der Biografiearbeit, dass es bei deutschen Vertriebenen aus dem Osten eine große Gruppe gibt, die sich wegen ähnlicher Lebenserfahrungen in der gegenwärtigen Flüchtlingsarbeit engagiert.

Es zeigt sich aber auch die Mehrdeutigkeit vieler Sieger- und Opfernarrative, die durch einseitige Freund-Feindzuweisungen antidemokratischen Missbrauch ermöglichen.

 

Das Beispiel Russland

Ein aktuelles Beispiel dafür ist die russische Erzählung vom „Großen Vaterländischen Krieg“ als Basis der Gedenkfeier vom 9.5. als Tag des Sieges der Sowjetunion über das nationalsozialistische Deutschland.

Dieser Tag bedeutet vielen Russen viel, einmal wegen der sehr hohen Zahl an Opfern, die viele Familien in der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg zu beklagen hatten, zum anderen weil im Verfallserlebnis des sowjetischen Imperiums dadurch Gemeinsamkeit, Sicherheit und Hoffnung gestiftet werden sollte und konnte.

Wie so oft in der Geschichte völkisch-nationalistischen Missbrauchs von historischen Ereignissen, in denen sich Leiden und deren Bewältigung verknüpfen, hat auch Putin diese zentrale Identitätserzählung gekapert, um sie seit 2015 für die imperiale Aggression gegen die Ukraine zu verwenden.

Der Begriff „Großer Vaterländischer Krieg“ geht zurück auf eine bereits einen Tag nach dem Angriff NS-Deutschlands auf die Sowjetunion in der Prawda erschienen Artikel.

Stalin, der zuvor und danach für zahlreiche Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich war, so für den Holodomor in der Ukraine, als im Rahmen einer durch die Zwangskollektivierung entstandenen Hungersnot Millionen von Ukrainern starben oder für die Verfolgung und Ermordung von Millionen von Sowjetbürger/innen im Rahmen der so genannten politischen Säuberungen, Stalin machte daraus  1945 die heute wieder von Putin benutzte Formel von der „Befreiung der Völker Europas vom Faschismus“.

Die Erzählung erhält ihre zentrale Bedeutung auch durch die Anknüpfung an den zaristischen Sieg über Napoleon  im Jahr 1812, also eine Art überpersönlich empfindbare Notwehrhaltung des Ostens, sprich im Kern Russlands, gegenüber dem Westen über Jahrhunderte hinweg.

Weder vom zaristischen noch vom stalinistischen Imperialismus und seinen mörderischen Folgen für viele nicht-russische Völker sowie zu Feinden der totalitären Regimes erklärten Bürger/innen ist hier die Rede.

Auch diese Opfer werden in Familien auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion erinnert, aber diese Erinnerung wurde behindert, zerstört, privatisiert und konnte sich auch in den unterschiedlich orientierten so genannten Tauwetterperiode zwischen 1953 und 1991 nie nachhaltig als nationalen Erzählung durchsetzen, wohl weil das eine zu starke Selbstkritik am eigenen Handeln, Denken und Fühlen vieler Bürger/innen und ein Bearbeiten  von Schmerz und Ohnmacht bedeutet hätte.

Die Ambivalenz der Erzählung vom „Großen Vaterländischen Krieg“ versteht man besser, wenn man z. B. im „Blockadebuch von Ales Adamowitsch und Daniil Granine liest, dass das ungeheure Leid der Leningrader Bevölkerung während der deutschen Blockade von 1941-44 anschaulich und biografisch schildert.

Es ist daher für die Selbstsuggestion Putins sicher auch von Bedeutung, dass er 1952 in Leningrad geboren wurde, der Vater war ein kommunistischer Fabrikarbeiter, der in der sowjetischen Armee gegen NS-Deutschland kämpfte und überlebte, die Mutter überlebte die Belagerung Leningrads, ihr zweiter Sohn starb allerdings an Diphterie.

Wie sehr biografische Geschichten sich unterscheiden zeigt andrerseits das Leben von Lew Kopelew, der als überzeugter Kommunist in der Sowjetarmee kämpfte, aber nach dem Einmarsch auf deutschem Staatsgebiet wegen Plünderungen, Vergewaltigungen und Ermordungen von Deutschen Kritik übte und daher am 5.4.1945 wegen „Propagierung des bürgerlichen Humanismus“, „Mitleid mit dem Feind“ und „Untergrabung der politisch-moralischen Haltung der Truppe“ verhaftet und verurteilt wurde, was ihn zum Dissidenten machte.

Die Formel, Mitleid mit einzelnen Menschen, sei politisch gesehen unmoralisch, gegenüber dem eigenen Volk unmoralisch, und der Feind sei nicht nur die feindliche Armee, sondern das sie tragende Volk, wird uns bis heute immer wieder in Kriegen begegnen, die völkisch motiviert und aufgeladen sind.

Ich kann Kopelews Erinnerungen „Aufbewahrung für alle Zeit“ empfehlen, um mehr zu erfahren. Er sah im Übrigen auch ein „anderes Deutschlands“ u.a. mit Lessing, Goethe, Schiller Heine und damals aktuell Thomas Mann, Berthold Brecht und Anna Seghers in der Emigration (S.200) So gab und gibt es auch ein „anderes Russland“ mit Tolstoi, Kropotkin und der russischen Opposition in Putins Diktatur.

In einem lesenswerten Essay zu „Repression und Revolte in Belarus“ hat der Autor Alhierd Bacharevic unter dem Titel „Sie haben schon verloren“ 2021 den propdagandistischen Missbrauch des Faschismusbegriffs skizziert: „Wenn Sie uns sagen, dass wir Faschisten sind, ist das ein Verfahren, das aus der alten, sowjetischen Propaganda stammt.

Für Tausende Menschen wurde dies zu einer Erinnerung, die sie sich selbst ausgedacht haben. Wenn wir Ihnen sagen, dass sie die Faschisten sind, ist es ein von Millionen von Menschen geschriebenes Urteil.

Wenn die Macht jemanden einen Faschisten nennt, dann ist es eine faschistische Macht.

Das Recht zu entscheiden, wo Faschismus ist und wo nicht, darf nie der Macht gehören. Alles ganz einfach.“

Es ist einfach und doch nicht einfach. So haben sich an den

Euromaidanprotesten 2013/14 in der Ukraine sowohl demokratische als auch völkisch-nationalistische Oppositionelle beteiligt, so die  Allukrainische Vereinigung „Swoboda“, die ihre Parteiideologie in ihren Programmen als „Sozialnationalismus“ und an das von der Organisation der Ukrainischen Nationalisten (OUN) in den 1930er Jahren formulierte Konzept der „Natiokratie“ anknüpft.

Die Partei, die als neofaschistisch bezeichnet werden  kann, erhielt bei Parlamentswahlen vor dem Euromaidan bis zu 10% der Stimmen, danach immer weniger, zuletzt 2019 2,15%.

Putins Propaganda, die ukrainische Regierung sei faschistisch kann also mit guten Gründen nicht nur als Fortsetzung sowjetisch-imperialer Propaganda, sondern auch als Spiegelung des eigenen  Totalitarismus verstanden werden.

Es bleibt also festzuhalten, dass antidemokratische Regime gewöhnlich demokratische Begriffe kapern und umdeuten für ihre Propaganda, dass sie Gefühle instrumentalisieren, biografische Widersprüche ignorieren und den Volksbegriff auf ein Freund-Feind-Schema als konstitutiv reduzieren, d.h. auf den Ausnahmefall eines Gewaltkonflikts ohne Ansehen von Verursachern und ohne Ansehen des Kriegsvölkerrechts.

Es scheint mir besser, die Grenze nicht zwischen links und rechts oder  zwischen Ost und West, sondern zwischen demokratisch und völkisch zu ziehen, und den Volksbegriff dieser beiden Lager genauer zu beschreiben.

 

Demokratischer Volksbegriff

Der Begriff Volk ist mehrdeutig wie alle Begriffe und kann anders als Begriffe von Gegenständen nicht gezeigt, sondern muss möglichst dicht beschrieben in seinem  Begriffsumfeld beschrieben werden, damit man versteht, welche Deutung gemeint und welche nicht gemeint ist.

Historisch hat er sich in Wortumfeldern entwickelt, die sprachliche Ähnlichkeiten und Unterschiede aufweisen. In seinem Buch „Weltsprache europäisch“ schreibt Edmund Jacoby: „Folks, die Leute, russisch ljudi, polnisch

lud, spanisch el pueblo oder französisch  le peuple oder englisch people – das sind die ganz normalen Menschen oder das Volk.“ (S. 144)

Statt normal hätte er besser gesagt: Eine Ansammlung von Menschen, wie es sie überall auf der Welt gibt, ohne weitere Beschreibungen und Zuordnungen.

Diese Ansammlungen wurden ursprünglich im Nahraum wahrgenommen, sind in der Familie, der Sippe/dem Clan, dem Dorf und übertrugen sich als Begriff auf größere Gemeinschaften wie Stadt, Land, Staat, Nation etc. Dabei nahmen sie dann immer stärker Unterscheidungen mit, sprachlicher, kultureller, rechtlicher Art bis hin zu äußerlichen Fremdheiten körperlicher Art.

Immer dann, wenn diese Unterscheidungen die Ähnlichkeiten an den Rand drängten oder vergessen ließen und damit auch die Möglichkeiten von Übertragungen, bzw. Mischungen, wurde der Volksbegriff missbraucht, um zur Machtgewinnung Ängste und Konflikte zu schüren.

Um sich bei allen Unterscheiden friedlich begegnen zu können, braucht es daher Raum und Zeit, in denen frei agiert werden kann.

Diese Begegnungs-Situationen werden überall auf der Welt durch Verfassungen geregelt, die z.B. formulieren, wie man einem Gast richtig, d.h. respektvoll begegnet und wie man sich als Gast gegenüber seinem Gastgeber richtig, d.h. respektvoll verhält. Diese Verfassungen sind nicht nur Rechtssysteme, sondern auch mit Gefühlen verbundene Denkwelten.

Kommen wir über die frühe Demokratiegeschichte der Neuzeit in die Gegenwart: In seinem Lied „Trotz alledem“ vom Juni 1848 formulierte Ferdinand Freiligrath gegen die militärische Macht der Fürsten: Wir sind das Volk, die Menschheit wir!“ Damit knüpft er ein Gedicht des Schotten Robert Burns von 1795 an, in dem dieser unter dem Titel „A Man’s A

Man for A’That“ – man im Sinne von mankind =Menschheit – soziale Gerechtigkeit, die Abschaffung der Sklaverei und die Unabhängigkeit Schottlands anmahnt, eine Mischung, die leicht durch Vereinseitigung gefährlich werden kann, wenn man also z. B. die soziale Gerechtigkeit und die Abschaffung der Sklaverei nur auf ein uanbhängiges Schottland begrenzen würde.

Freiligrath wird also deutlicher als Burns. Er bindet den Volksbegriff an die Menschenrechte, an people, Leute, peuple, pubelo etc.

Das ist die demokratische Variante von Volk, die Bindung an die Menschenrechte. Man könnte das dazu passende Gefühl auch Menschenliebe nennen. Diese Liebe ist ähnlicher und anderer Art als die Liebe zwischen zwei Menschen oder die Liebe in und zu einer Familie. Sie zeigt sich allgemeiner, menschlicher eben und ist dennoch fühlbar. Hannah Arendt hat sie mit dem Begriff Natalität bezeichnet, dem freundlichen

Blick, den man meist in aller Welt auf Neugeborene wirft. Emmanuel Levinas findet sie in den Augen des/der Anderen, die uns begegnen und uns in ihnen als Mensch erkennen lassen.

Man könnte also sagen, dass Demokratie ein liebendes System ist. In den letzten Jahren wurde das auch verschiedentlich so formuliert.

So schreibt Hedwig Richter in ihrem Buch „Demokratie. Eine deutsche Affaire“ von den „Mühen und Freuden der Demokratie“ als „Geschichte einer gar nicht selbstverständlichen, überaus komplizierten Liebe“ und verweist dabei auch auf die amerikanische Autorin Martha Nussbaum, die Ähnliches formuliert.

Wenn damit Überwältigungsforderungen ins Spiel kommen, ist allerdings Skepsis angebracht. Nicht zuzletzt deshalb hat der frühere Bundespräsident Gustav Heinemann 1969 in einem Spiegel-Interview einmal gesagt: „Ach was, ich liebe keine Staaten, ich liebe meine Frau, fertig!“

Aber die Geschichte hält auch andere Begriffe von Zuneigung für eine emotionale Haltung zur Demokratie bereit wie Freundschaft und Mitleid, beides Begriffe, die im 18. Jahrhundert ihre Deutungswurzeln für die Gegenwart erhalten haben, Freundschaft als gegenseitige Achtung in zunächst nur männlichen Gemeinschaften ohne Konfessions- und Standesbindung, die Grunderfahrung von Freiheit und Gleichheit, und Mitleid im bürgerlichen Trauerspiel von Lessing und anderen Autoren der Aufklärung.

Aufgegriffen hat das der israelisch-deutsche Philosoph Omri Boehm, der für sein 2022 erschienenes Buch „Radikaler Universalismus“ gerade den „Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung“ erhalten hat.

In seiner Dankesrede beschreibt er Freundschaft als Licht in dunklen Zeiten und öffnet damit einen Blick auf demokratische Mitmenschlichkeit in von Feindschaft belasteten Situationen. Konkret bezieht er sich auf den Massenmord der Hamas am 7.10. im Süden Israels und auf die  Tötung tausender Frauen und Kinder im Gazastreifen durch das israelische Militär.

Und er sagt: „Von Freundschaft zwischen Israelis und Palästinensern zu sprechen, scheint für einen Augenblick mehr als naiv oder utopisch – es erscheint fast grotesk.

Aber nein. Es gibt noch jüdisch-palästinensiche Freundschaften, und wo sie existieren, bieten die Forderungen, die sie stellen. Licht.“Formeln  wie „bewaffneter Widerstand“ und „Selbstverteidigung“ seien beschämend für israelisch-palästinensische Freunde. Freundschaft aber sei der Test, der vor dem abstrakten Missbrauch von Ideen schütze.

In ihrer Laudatio verwies die israelische Soziologin Eva Illouz, die  2022 ein Buch mit dem Titel „Undemokratische Emotionen. Das Beispiel Israel“ vorgelegt hat, auf Boehms Fähigkeit, durch seine begrifflichen Klärungen „stets die moralische und politische Vorstellungskraft“ zu erweitern.

So  hat er 2020 in seinem Buch „Israel – eine Utopie“ die Idee eines jüdisch-palästinensichen binationalen Bundesstaates als Alternative zum 1948 gegründeten jüdischen Staat Israel vertreten.

Er argumentierte u.a. damit, dass der Zionismus vor dem Holocaust universalistisch orientiert gewesen sei.

Erst der Holocaust habe die Idee einer  ethnischen Staatsbürgerschaft ins Spiel gebracht. Dadurch aber sei ein demokratisches Miteinander von Juden und Palästinensern verunmöglicht worden. Illouz weiter: „Was Boehm im Sinn hat würde keine postkoloniale Heilung der Wunden erfordern, sondern im Gegenteil einen aktiven Akt des Vergessens als Hommage aller Seiten an die Menschlichkeit des anderen und ihre eigene.“  Genau das aber suchen völkische Ideologen auf beiden Seiten zu verhindern. Denn das Gegenbild zu Freundschaft als konstitutive

demokratische Grundhaltung ist Feindschaft als konstitutive völkische Grundhaltung. Die Mittel einer solchen Obstruktionspolitik können sehr verscheiden sein, neigen aber zur Eskalierung von Gewalt.

Völkischer Volksbegriff

Der Staatsrechtler Carl Schmitt, der ab 1933 die NS-Diktatur unterstützte, formulierte 1923 in seinem Buch „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus“:

„Jede wirkliche Demokratie beruht darauf, dass nicht nur Gleiches gleich, sondern, mit unvermeidlicher Konsequenz, das Nicht gleiche nicht gleich behandelt wird. Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen.“

Und 1927 in „Der Begriff des Politischen“: „Die spezifische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind.“

Damit ist der begriffliche Rahmen für völkisches Denken gesetzt.

Er schließt Interesse an Heterogenität, an Begegnung mit Anderen, an Verschiedenheit, an Veränderung, an Einfühlung, an Spiel und vielen anderen menschlichen Formen im Rahmen von Impuls und Resonanz aus und ersetzt sie durch die Frage der Macht von Kollektiven, deren Begründung und Kontrolle im Dunkel bleibt. Letztlich führt das in der politischen Praxis meist zur autoritären Rolle eines Volkskönigs, Volkskaisers oder Volksführers, der behauptet die Verkörperung des Volkswillens zu sein.

Dem Demokratiebegriff wird so seine Bindung an die Menschenrechte entzogen.

Die Demokratietheoretikerin Ingeborg Maus sah dagegen 1994 in ihrem Aufsatz zu „Naturrecht, Menschenrecht und Gerechtigkeit“  einen notwendigen Zusammenhang von Menschenrechten und Volkssouveränität:  „Unantastbar werden die Freiheitsrechte erst dadurch, dass nicht die Mächtigen, sondern die Machtlosen über die Art ihres Freiheitsgebrauchs befinden.“

Homogenität von Völkern ist eine Fiktion.

Sie sind immer in Bewegung, und zwar an den vielfältigen Grenzen von Ähnlichkeit und Unterschied. Staatsgrenzen sind nur eine Form ihrer Begrenzung und garantieren, sofern sie demokratisch verfasst sind,

nicht nur ihren Staatsbürger/innen Grundrechte, die aus den Menschenrechten abgeleitet sind, sondern auch Nicht-Staatsbürgern. Diese Grundrechte wurden 1948 in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ auf einer UN-Generalversammlung beschlossen. Es gibt also keine illiberale Demokratie, wie sie z.B. Viktor Orban verkündet und wohl auch Putin und andere Autokraten für sich in Anspruch nehmen würden. Es handelt sich dabei um unter meist fragwürdigen Wahlumständen durch Wahl per Mehrheit installierte völkische Systeme

autoritärer und nationalistischer Art, die sich durch Verfolgung von politischen Kritikern und Minderheiten sowie durch imperiale Aggressionen zu festigen suchen.

Sie basieren auf Feinderklärungen ohne konkreten Anlass und sind auf der Gefühlsebene durch Hass und Hassreden gekennzeichnet. Es wird behauptet und verschworen, Begriffe werden gekapert und umgedreht, Menschen werden gegeneinander aufgehetzt und Führergestalten auf Dauer installiert, die Lew Kopelew einmal treffend als moderne Götzen bezeichnet hat:

„In unserem Jahrhundert wurden Mussolini, Hitler, Stalin, Mao zu Götzen gemacht Ihr Priester und Diener schrieben ihnen übernatürliche Kräfte zu, brachten ihnen Menschenopfer, wollten ihre menschenfresserische Glaubenslehre auf allen Kontinenten einführen.

Dazu benötigten sie auch mythische Genealogien und richteten Totenkulte mit imaginären Vorfahren auf.“ (S. 412 Und schuf mit einen Götzen) Ihre Merkmale seien todbringender Hass gegen Andersdenkende und Andersgläubige gewesen, die Forderung nach sklavischer Unterwerfung sowie die Unterdrückung von Gewissen und Wort.

 

Das Beispiel AFD

Man findet diese völkischen Götzen und ihre Parteien auf der ganzen Welt.

Im heutigen Deutschland steht dafür die AFD, die ihre von Anfang an völkisch getönte Ideologie immer weiter radikalisiert hat.

Feindschaft und Hass sind die Kernbotschaften der AFD.

Sie gibt sie, unabhängig von Mehrheiten bei Wahlen, als deutschen Volkswillen aus.

Das als homogen verstandene deutsche Volk, ein Mythos, der behauptet und selten beschrieben wird, sei bedroht durch einen von den allen Parteien außer der AFD geplanten „Bevölkerungsaustausch“, wie der mittlerweile ausgetretene ehemalige Parteivorsitzende Jörg Meuthen 2017 sagte. (Cremer s. 56) Begründet wird das laut Alexander Gauland mit der Anwesenheit „raum- und kulturfremder Menschen“ (Cremer S. 55), die Alice Weidel in einer Bundestagsrede 2018 „Burkas, Kopftuchmädchen und alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse“ beschrieb, die „unseren Wohlstand, das Wirtschaftswachstum und vor allem den Sozialstaat nicht sichern.“

Ein ziemlich homogenes Feindbild angesichts der realen Migration.

Alexander Gauland definiert „Identität, Nationales, Kultur“ des Volkes als angeboren und unveränderbar. (Cremer, S.55)

Alice Weidel warf der Ampelregierung kürzlich auf diesem Hintergrund

Hass auf das eigene Volk vor. In einer internen Email vom Februar 2013,

also zur Zeit der großen Koalition unter Angela Merkel, hatte sie bereits geschrieben: „Der Grund, warum wir von kulturfremden Völkern wie Araber, Sinti und Roma etc. überschwemmt werden, ist die systematische Zerstörung der bürgerlichen Gesellschaft als mögliches Gegengewicht von Verfassungsfeinden, von denen wir regiert werden….

Diese Schweine sind nichts anderes als Marionetten der Siegermächte des 2. Weltkriegs und haben die Aufgabe, das deutsche Volk klein zu halten, indem molekulare Bürgerkriege in den Ballungszentren durch Überfremdung induziert werden sollen.“ (nach Cremer S. 57)

Die Sprache zeigt immer wieder innere Zusammenhänge, auch wenn sie geleugnet werden.

So hängen hassen und hetzen (jagen) etymologisch zusammen.

So sagte Alexander Gauland im September 2017 nach der Bundestagswahl: „Wir werden sie jagen. Wir werden Frau Merkel oder wen auch immer jagen. Und wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen.“ (Rede FV, Focus Zitat)

Das ist Hass und Hetze in einem.

Die feindselige Verachtung, die zum Hass gehört und ihn rational und strategisch macht, wird stets mit der Missachtung der eigenen Person oder Gruppe begründet.

Und es wird gedroht.

So sagt der Kopf der Neurechten in der AFD Björn Höcke, in einem 2018 im neurechten Antaiosverlag von Götz Kubitschek erschienenen Gesprächsabend: „Existenzbedrohende Krisen erfordern außergwöhnliches Handeln… Ich bin sicher, dass…am Ende noch genug Angehörige unseres Volkes vorhanden sein werden, mit denen wir ein neues Kapitel unserer Geschichte aufschlagen können.

Auch wenn wir leider ein paar Volksteile verlieren werden, die zu schwach oder nicht willens sind, sich der fortschreitenden Afrikanisierung, Orientalisierung und Islamisieurng zu widersetzen…

Aber die deutsche Unbedingtheit wird der Garant dafür sein, dass wir die Sache gründlich und grundsätzlich anpacken werden. Wenn einmal  die Wendezeit gekommen ist, dann machen wir Deutschen keine halben Sachen.

Dann werden die Schutthalden der Moderne beseitigt.“ (Cremer S, 92)

Auf die Methoden dafür angesprochen, spricht er von „wohltemperierter Grausamkeit“  (S. 93) Ein Euphemismus für Gewalt gegen politische Gegner und zu Volksfeinden erklärten Migranten. Beseitigen hieße in diesem Zusammenhang wohl auch mehr als Vertreibung.

Eine aktuelle Begiffskaperung, die der AFD aus der frz. „Nouvelle Droite“ vermittelt wurde, ist Remigration, ursprünglich ein Wissenschaftsbegriff ohne politische Konnotation.

Die neurechte Wendung findet sich bereits 2011 in einem Buch von Renaud Camus, einem Vordenker des französischen „Rassemblement National“ (RN). 2018 findet sich der Begriff bei Björn Höcke. (wikipedia Remigration, anm. 55 Hajo Funke: Rechtsextremismus: Höcke will den Bürgerkrieg. In: zeit.de, 24. Oktober 2019)

 Eine  journalistische Recherche machte im Januar 2024 bekannt, dass der Identitäre Martin Sellner aus Österreich bei einem Geheimtreffen in Potsdam, an dem auch AFD-Politiker teilgenommen hatten, einen  so genannten Masterplan für Remigration vor,  der Menschen mit Migrationshintergrund aus Deutschland ausweisen soll, auch Menschen mit einem deutschen Pass. (Michael Kubitza, Rechtes Geheimtreffen: Wofür steht der Begriff „Remigration?“ 11.1.2024, www.br.de)

Das liegt genau auf der Linie, die auch  die Nazis nach 1933 mit den deutschen Juden verfolgt haben, und zwar in einem Radikalisierungsprozess, der mit dem völkisch begründeten Ausschluss dieser deutschen Staatsbürger aus Staat und Öffentlichkeit, Fantasien von Umsiedlungen in Länder wie Madagaskar begann und in Deportationen und Völkermord endete.

 

Typologie völkischer Radikalisierung

Der völkische Radikalisierungsprozess lässt sich in seinen Möglichkeiten vorhersagen, wenn man die Entwicklungen unter Hitler und Stalin mit gegenwärtigen Tendenzen vergleicht, sei es bei der PIS in Polen, in Ungarn, in Putins Russland oder in Erdogans Türkei. Außereuropäische Vergleiche wie China, Syrien, den Iran oder den Trumpismus lasse ich erstmal beiseite.

Es beginnt mit völkischer Propaganda, bei Machtübernahme durch Wahl werden  Gewaltenteilung, zunächst die Unabhängigkeit der Justiz, und Pressefreiheit eingeschränkt.

Danach werden politische Gegner verfolgt und inhaftiert, manchmal auch umgebracht. Minderheitenrechte werden beschnitten.

Es folgen Krieg und Vertreibung bis hin zum Völkermord. Dabei wird auch die eigene Bevölkerung geopfert, anfangs als soldatisches „Kanonenfutter“ und wenn es den Kriegsverbrechern an den Kragen geht und sie nicht kapitulieren können, ohne Strafe zu fürchten, dient sie als Schutzschild, der vom Gegner mit der Gewalt von Bomben zum Einlenken gezwungen wird.

Im Grunde ist der Prozess völkischer Feinderklärung nicht nur ein Prozess der Zerstörung von zu Feinden erklärten Menschen, sondern  auch ein Prozess der Selbstzerstörung. Wie weit dieser Radikalisierungsprozess tatsächlich geht, hängt von der historischen Situation in und um die völkisch regierten Staaten ab und bleibt beeinflussbar.

Gebremst oder gestoppt werden kann dieser Prozess nur durch demokratische Gegenkräfte in der eigenen Gesellschaft, im eigenen Volk, um in der bisher benutzten Begriffswelt zu bleiben, oder durch Gegenkräfte im Außenverhältnis.

Im Inneren einer völkischen Bewegung oder Partei werden Gegner einer Radikalisierung systematisch ausgeschaltet und verdrängt.

Das zeigt bereits die noch frühe Stufe der AFD-Entwicklung. Der Höckeflügel hat den Parteigründer Bernd Lucke verdrängt, danach seine Gegnerin Frauke Petry und danach Jörg Meuthen, die vom Verbündeten der Rechtsradikalen zu Bedenkenträgern wurden, ähnlich die Situation in Rheinland-Pfalz mit Uwe Junge und Michael Frisch.

In der Außendarstellung incl. Der Programmatik werden dabei radikale Formulierungen und Strategien verleugnet, bzw. nach nachgewiesenen Äußerungen relativiert. Wer sich den Entwicklungsprozess der NSDAP anschaut, findet vergleichbare Muster. So wie von Papen Hitler unterschätzt hat, so war das auch mit Meuthen und Höcke und es wird noch geschehen mit Gauland und Weidel, wenn Höcke es für opportun hält.

Putins Entwicklung ist ebenfalls vergleichbar.

Entscheidend sind ideologische Muster völkischen Denkens und beobachtbare Stufen von typisch völkischer Radikalisierung, nicht situative Unterschiede, die den historischen und politischen Umständen geschuldet sind.

 

 

Offene Fragen

– Mehrdeutigkeiten und Ambivalenzen sowie Ähnlichkeit und Differenz als Beobachtungs- und Beschreibungsmethoden

– Fragen zu Verteidigung nach einem Angriff –  Kriegsvölkerrecht und Perspektiven; Widerstand und Verteidigung – Beispiele Region aus der Region (siehe Biografien KZ-Gedenkstätte Osthofen)

– Veränderungen durch Gewalt – Hass aus Verteidigung, Missbrauch von Opfernarrativen

– Übermacht und Niederlage – kulturelle Subversität (Beispiel:  afroamerikanische Kultur)

– Rechtsfragen (Gewaltenteilung, Rechtsstaat, Völkerrecht etc.)  versus Machtfragen – Unterschied

– Sachfragen bearbeiten, die von rechts aufgeworfen werden: Themen und Begriffe bearbeiten statt des völkischen Alternativbündels; Wähleranalyse einbeziehen

 – Blick auf den Verlust industrielle geprägter Lebenswelten und deren Folgen (Analysen der Entwicklung nach DDR  in den neuen Bundesländern;  siehe auch Nobelpreisträgerin Swetlana  Alexijewitsch, Seconhandzeit, Leben auf den Trümmern des Sozialismus; kulturelle Formen/Narrative/Symboldebatten

– Begriffe wie  Heimat, Volk, Deutschland nicht kapern lassen, mit eigenen Narrativen füllen

– Verhältnis Mehrheit und Verfassung

– Teilhabe, Bürgerbudgets, dritte Orte/Räume- Demokratisierung – Kümmerer vor Ort, Bedeutung kommunaler Selbstverwaltung (Forderung 1838, Finanzielle Freiräume vor Ort); Gemeinwesenorientierung statt Konsumentenstatus der Bürger/innen; Öffnung öffentlicher Felder zur Demokratieerfahrung; Geselligkeit und Fest als demokratische Kategorien seit der Aufklärung; Kreativität, Freude und Fantasie (Neuanfänge nach dem Prinzip Impuls und Resonanz) als Ermutigungserfahrung

– Kommunikation und Umgang mit Komplexität, Vermittlung bei zerfallenden Ordnungshierarchien sowie komplexeren Strukturen (Kommunikation und Koordination); Personal kommunal und zivilgesellschaftlich (Reform des Zuwendungsrechts, Lotsen für Bürger/innen-Anliegen in der Verwaltung)

– Nutzung vorhandener Gesetze bei Hassreden und Hetze

– Beachtung persönlicher Kapazitäten (Menschenwürde, Recht auf Erschöpfung); situatives Handeln